Das »Griechische Profil« Schon in Winckelmanns Schriften finden sich Hinweise darauf, dass er das von ihm anhand der antiken Skulptur formulierte Schönheitsideal mitunter in der Wirklichkeit wiederzufinden glaubte. An entsprechenden Versuchen, die idealen Maßverhältnisse der antiken Kunst auf den modernen Menschen zu übertragen, hat es auf Seiten der Malerei und Bildhauerei, vor allem aber auch der Medizin, Ethnologie und Physiognomik nicht gemangelt. Als exemplarisch hierfür kann das von Winckelmann bewunderte »griechische Profil« gelten, aus dem der niederländische Physiologe Pieter Camper den Maßstab des sogenannten »Gesichtswinkels« entwickelt hat, mit dem er das gesamte Spektrum zwischen dem niedersten Tier und dem erhabensten griechischen Gott beschreiben zu können glaubte.
Pieter Camper (1722–1789)
Dissertation physique […] sur les différences réelles que présentent les traits du visage chez les hommes de différents pays et de différents âges [...] Publiée après le décès de l’auteur par son fils Adrien Gilles Camper. Traduite du Hollandois par Denis Bernard Quatremère d’Isjonval
Utrecht: Wild & Altheer, 1791 | Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign. 1720 (gezeigt: Taf. III) | © Klassik Stiftung Weimar, HAAB, Foto: Hannes Bertram | Katalog 2017 [Nr. 88]
Der von ihm ›entdeckte‹, sich aus dem Verhältnis von Stirn, Nase und Kinn ergebende »Gesichtswinkel« diente dem niederländischen Physiologen Pieter Camper zur vergleichenden Analyse unterschiedlichster Kreaturen und Rassen, von Affen, Hunden und Vögeln bis zu Afrikanern, Asiaten und Europäern. Als Beispiel für die ideale Ausbildung der Gesichtszüge steht bei ihm – wie übrigens auch bei Christian von Mechel – der Apoll vom Belvedere mit seiner fast senkrechten Nase, also genau jene Figur, die Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums als »das höchste Ideal der Kunst« herausgehoben hatte.
digitale Version Bd. 1, Universität Heidelberg
digitale Version Bd. 2, Universität Heidelberg
Christian von Mechel (1737–1817)
Stufenfolge von dem Frosche bis zum Apollo-Profile.
Ausgeführt und herausgegeben in Basel von Chr. von Mechel nach den Ideen des berühmten Lavaters, 1797, kolorierte Radierung, 453 × 595 mm | Schweizerisches Nationalmuseum, Affoltern am Albis, Inv. LM 55396 | © Schweizerisches Nationalmuseum, Foto Nr. DIG-11926 | Katalog 2017 [Nr. 87]
Die von dem Schweizer Physiognomiker J. C. Lavater entwickelte und dem Basler Kupferstecher und Winckelmann-Freund Christian von Mechel graphisch umgesetzte Idee einer »Stufenfolge von dem Frosche bis zum Apollo-Profile« beruht im wesentlichen auf den Ideen des niederländischen Physiologen Pieter Camper. Im Gegensatz zu Campers Schädelvermessungen ist Lavaters Stufenfolge, deren ausführliche Beschreibung erst im Rahmen seiner Nachgelassenen Schriften (1802) publiziert wurde, allerdings ein wissenschaftshistorisches Unikum geblieben.
Johann Gottfried Schadow (1764–1850)
Selim du Darfour
1807, Gips, koloriert, H. 48 cm, Vorderseite bez.: »Selim du Darfour«; Rückseite bez.: »1807 G Schadow«, Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, PL 148 | © Akademie der Künste, Kunstsammlung, Berlin, Foto: Eric Tschernow | Katalog 2017 [Nr. 89]
Caffernprinz
1821, Gips, koloriert, H. 53 cm, Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv. 84/56/222 | © Akademie der Künste, Kunstsammlung, Berlin, Foto: Maximilian Merz | Katalog 2017 [Nr. 90]
Der Bildhauer und Zeichner Johann Gottfried Schadow hat sich sein Leben lang mit dem Menschen und seinen Proportionen beschäftigt. In diesen Kontext gehören auch die Gipsbüsten zweier Afrikaner aus den Jahren 1807 und 1821, die in der Kopfhaltung eindeutig klassizistisch geprägt sind. In seiner Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) hatte Winckelmann einerseits von der Schönheit der »Mohren« gesprochen, andererseits aber in deren »aufgeworfene[m] schwülstige[m] Mund« eine Gemeinsamkeit mit dem »Affen in ihrem Lande« zu erkennen geglaubt. So konnten seinem Werk Bausteine zu einer rassistisch-vorkolonialen Schönheitsauffassung entnommen werden. Ob und inwieweit sich die beiden Büsten Schadows nahtlos in diese Tradition einordnen lassen oder, zumindest im Fall des Selim, auch die Schönheit der Dargestellten erkennen lassen, ist durchaus diskussionswürdig.
Johann Gottfried Schadow (1764–1850)
Kopfstudie eines Afrikaners [Selim]
o. J., Lithografie, 256 × 376 mm, bez. handschriftlich mit Grafit: »Neger aus dem Darfour, hat bei mir anno 1807 / 3 Monat gewohnt.«, Klassik Stiftung Weimar, Museen, Inv. DK 713/2004 | © Klassik Stiftung Weimar, Museen, Foto: Hannes Bertram | Katalog 2017 [Nr. 91]
Kopfstudie eines »Caffern«
um 1823(?), Lithografie, 300 × 393 mm, bez. handschriftlich mit Grafit: »Caffer wurde von Madagascar an / Professor Lichtenstein geschickt in Spiritus.«, Klassik Stiftung Weimar, Museen, Inv. DK 128/87 | © Klassik Stiftung Weimar, Museen, Foto: Hannes Bertram | Katalog 2017 [Nr. 92]
»In der Bildung des Gesichts ist das sogenannte Griechische Profil die vornehmste Eigenschaft einer hohen Schönheit. Dieses Profil ist eine fast gerade oder sanft gesenkte Linie, welche die Stirn mit der Nase an jugendlichen, sonderlich Weiblichen Köpfen, beschreibet. ... Daß in diesem Profile eine Ursache der Schönheit liege, beweiset dessen Gegentheil: denn je stärker der Einbug der Nase ist, je mehr weicht jenes ab von der schönen Form; ... .«
(J. J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, 1764)»Tivoli ist mir noch durch etwas unbemerktes merkwürdig geworden. Ich glaube, man finde an keinem Ort in Italien ein so schönes Geblüt; es ist nichts seltenes ein Griechisches Profil zu sehen.«
(J. J. Winckelmann an H. von Bünau, 7. Juni 1756)