Winckelmanns römische Statuenbeschreibungen Winckelmanns Hinwendung zur direkten Sinneserfahrung führt ihn in Rom an jene Orte, an denen er die antiken Kunstwerke direkt in Augenschein nehmen kann. Entscheidend dabei ist, dass sein Blick auf die Statuen beides umfasst: einerseits ihre ahistorisch-poetische, zum Teil durchaus schwärmerische Beschreibung, andererseits die akribisch-kennerschaftliche Untersuchung aller ihrer materiellen Details. Im Hof des vatikanischen Belvedere hat Winckelmann neben der Laokoon-Gruppe u. a. auch die beiden nach diesem Ort benannten Statuen des Apoll und des Torso wiederholt betrachtet und ihnen zwei seiner berühmtesten Beschreibungen gewidmet.
Apoll vom Belvedere
Römische Marmorkopie des 2. Jhs. n. Chr. nach einem Bronzeoriginal des ausgehenden 4. Jhs. v. Chr., Marmor, H. 224 cm, Musei Vaticani, Rom, Inv. 1015 | Gipsabguss: Ludwig-Maximilians-Universität München, Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke, Inv. 381 | © Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke & Institut für Klassische Archäologie der Ludwig Maximilians Universität, Foto: Roy Hessing | Katalog 2017 [Nr. 13]
Der noch heute im päpstlichen Statuenhof zu sehende Apoll vom Belvedere verkörpert für Winckelmann schlicht »das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind«. Zwar galt die gegen Ende des 15. Jahrhunderts wiederentdeckte Statue schon immer als »schön«, doch erst Winckelmann erhebt den Apoll vom Belvedere in seinen hymnischen Beschreibungen zur Idee der Schönheit schlechthin. Dargestellt ist ihm zufolge der jugendliche Gott, der soeben die Schlange Python, die das Orakel zu Delphi bewacht, erschlagen hat, und mit einer Mischung von Stolz und Abscheu in die Ferne blickt. Durch Winckelmanns Huldigung wurde die Statue zu einer der prägenden Darstellungen für den Klassizismus und war fortan eng mit seinem Antikenbild verbunden.
Der heutigen Archäologie zufolge handelt es sich beim Apoll vom Belvedere um eine nach einem griechischen Bronzeoriginal des späteren 4. Jahrhunderts v. Chr. gefertigte römische Marmorkopie des 2. Jahrhunderts n. Chr. Ihre von Winckelmann bewunderte glatte Eleganz verdankt sie allerdings wohl vornehmlich neuzeitlichen Überarbeitungen.
»Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind. Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebauet, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nöthig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. [...] Ueber die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und sein Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend, und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder. Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten, und versuche ein Schöpfer einer Himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die Menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein Himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strohm ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllet. Er hat den Python, wider welchen er zuerst seinen Bogen gebraucht, verfolget, und sein mächtiger Schritt hat ihn erreichet und erleget. Von der Höhe seiner Genugsamkeit geht sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hinaus: Verachtung sitzt auf seinen Lippen, und der Unmuth, welchen er in sich zieht, blähet sich in den Nüssen seiner Nase, und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer seligen Stille auf derselben schwebet, bleibt ungestört, und sein Auge ist voll Süßigkeit, wie unter den Musen, die ihn zu umarmen suchen. [...] Eine Stirn des Jupiters, die mit der Göttinn der Weisheit schwanger ist, und Augenbranen, die durch ihr Winken ihren Willen erklären: Augen der Königinn der Göttinnen mit Großheit gewölbet, und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten Branchus die Wollüste eingeflößet. Sein weiches Haar spielet, wie die zarten und flüßigen Schlingen edler Weinreben, gleichsam von einer sanften Luft bewegt, um dieses göttliche Haupt: es scheint gesalbet mit dem Oel der Götter, und von den Gratien mit holder Pracht auf seinem Scheitel gebunden. Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejenigen, die ich wie vom Geiste der Weißagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos und in die Lycischen Hayne, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehrete: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit.«
(J. J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, S. 392f.)
Torso vom Belvedere
Original: 1. Jh. v. Chr., Marmor, H. 157 cm, im Fall der Rekonstruktion ca. 280 cm, Musei Vaticani, Rom, Inv. 1192 | Gipsabguss: Georg-August-Universität Göttingen, Archäologisches Institut, Inv. A 457 | © Georg-August-Universität Göttingen, Archäologisches Institut, Foto: Stephan Eckardt | Katalog 2017 [Nr. 12]
Der aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. stammende und bereits im 15. Jahrhundert wiederentdeckte Torso vom Belvedere stellt nach heutigem Kenntnisstand den griechischen Helden Aias vor. Wie zahlreiche Gelehrte vor und nach ihm sieht Winckelmann im Torso jedoch die »verstümmelte Statue eines sitzenden Herkules«, die er trotz ihres fragmentarischen Zustands zu »den allerschönsten Werken des Alterthums« zählt. Aus dem »fast ungeformten Klumpen Stein« ersteht in seiner Beschreibung die Statue in ihrer ursprünglichen Vollkommenheit mit Armen, Beinen und Füßen. Winckelmann lässt die Taten des gleichsam lebendig gewordenen Helden Revue passieren und steigert die Einbildung bis zur Entrückung an die mythischen Schauplätze und »entlegensten Gegenden der Welt, durch welche Herkules gezogen ist«.
»Ich führe dich itzo zu dem so viel gerühmten, und niemals genug gepriesenen Trunk eines Herkules; zu einem Werke, welches das schönste in seiner Art, und unter die höchste Hervorbringung der Kunst zu zählen ist, von denen, welche bis auf unsere Zeiten gekommen sind. Wie werde ich dir denselben beschreiben, da er der zierlichsten und der bedeutendesten Theile der Natur beraubet ist! So wie von einer mächtigen Eiche, welche umgehauen und von Zweigen und Aesten entblößet worden, nur der Stamm allein übrig geblieben ist, so gemißhandelt und verstümmelt sitzet das Bild des Helden; Kopf, Brust, Arme und Beine fehlen.
Der erste Anblick wird dir vielleicht nichts, als einen ungeformten Stein sehen lassen: vermagst du aber in die Geheimniße der Kunst einzudringen, so wirst du ein Wunder derselben erblicken, wenn du dieses Werk mit einem ruhigen Auge betrachtest. Alsdenn wird dir Herkules wie mitten in allen seinen Unternehmungen erscheinen, und der Held und der Gott werden in diesem Stücke zugleich sichtbar werden. [...] Fraget diejenigen, die das Schönste in der Natur der Sterblichen kennen, ob sie eine Seite gesehen haben, die mit der linken Seite zu vergleichen ist. Die Wirkung und Gegenwirkung ihrer Muskeln ist mit einem weislichen Maaße von abwechselnder Regung und schneller Kraft wunderwürdig abgewogen, und der Leib mußte durch dieselbe zu allem, was er vollbringen wollen, tüchtig gemacht werden. So wie in einer anhebenden Bewegung des Meers die zuvor stille Fläche in einer lieblichen Unruhe mit spielenden Wellen anwächset, wo eine von der andern verschlungen, und aus derselben wiederum hervorgewälzet wird: eben so sanft aufgeschwellet und schwebend gezogen, fließet hier eine Muskel in die andere, und eine dritte, die sich zwischen ihnen erhebet, und ihre Bewegung zu verstärken scheinet, verlieret sich in jene, und unser Blick wird gleichsam mit verschlungen. [...] Ich sehe hier den vornehmsten Bau der Gebeine dieses Leibes, den Ursprung der Muskeln und den Grund ihrer Lage und Bewegung, und dieses alles zeiget sich wie eine von der Höhe der Berge entdeckete Landschaft, über welche die Natur den mannichfaltigen Reichthum ihrer Schönheiten ausgegossen. So wie dessen luftige Höhen sich mit einem sanften Abhang in gesenkte Thäler verlieren, dahier sich schmälern und dort erweitern: So mannichfaltig, prächtig und schön erheben sich hier schwellende Hügel von Muskeln, um welche sich oft unmerkliche Tiefen, gleich dem Strome des Mäanders, krümmen, die weniger dem Gesichte, als dem Gefühle, offenbar werden.«
(aus: J. J. Winckelmann, Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 5, 1759, 1. St., S. 33-41)