Paris als das neue Athen Winckelmanns These von der politischen Freiheit als Bedingung für die Kunstblüte im antiken Griechenland bildete den Hintergrund für die im revolutionären Frankreich verbreitete Vorstellung von Paris als dem neuen Athen. Diese These diente u. a. als Legitimation für den Kunstraub in Rom, der als »Befreiung« der Kunstwerke aus dem »despotischen« Kirchenstaat verstanden wurde. An die neu gegründeten Museen wurde zugleich die Erwartung eines neuen Aufschwungs der Kunst geknüpft. »Befreit« wurde nicht zuletzt Winckelmann selbst: Große Teile seines Nachlasses befanden sich unter den Schätzen, die um 1800 aus Rom in die französische Hauptstadt gebracht wurden, wo seine Exzerpthefte bis heute in der Bibliothèque Nationale verwahrt werden.
Louis-Pierre Deseine (1749–1822)
Büste Johann Joachim Winckelmann
1800, Gips, terrakottafarben, orangebraun beschichtet, H. 58 cm, Châteaux de Versailles et de Trianon, Versailles, Inv. M.V. 646, L.P. 515 | © bpk / RMN – Grand Palais, Foto: Christophe Fouin: S. 300 | Katalog 2017 [Nr. 108]
1797 gab der französische Historiker und Museumsleiter Alexandre Lenoir sieben Büsten von »berühmten Franzosen« für sein 1795 in Paris eröffnetes Musée des Monumens Français in Auftrag. Neben Künstlern, Schriftstellern und Gelehrten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert befand sich unter den genannten sieben Franzosen auch Winckelmann. Damit wollte Lenoir dem Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums für seinen entscheidenden Beitrag zur Geschichtsschreibung Ehre erweisen. Der zunächst dem Bildhauer Claude Michallon anvertraute Auftrag wurde nach dessen Tod schließlich von Louis-Pierre Deseine realisiert.
Antoine Chrysostome Quatremère de Quincy (1755–1849)
Lettres sur le préjudice qu’occasionneroient aux arts et à la science, le déplacement des monumens de l’art de l’Italie, le démembrement de ses ecoles, et la spoliation de ses collections, galerie, Musées, etc., Paris: Desenne, 1796
Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Sign. Ns 1106 | Katalog 2017 [Nr. 202]
Die mit Hinweis auf Winckelmann gerechtfertigten revolutionären Beschlagnahmungen von Kunstwerken stießen nicht nur in den geplünderten Ländern rasch auf Kritik. In seinen anonym publizierten sogenannten Lettres à Miranda berief sich der französische Archäologe und Architekturtheoretiker Antoine Chrysostome Quatremère de Quincy ebenfalls auf Winckelmann, um nun aber genau im Gegenteil »den nachtheiligen Einfluß der Versetzung der Monumente aus Italien auf Künste und Wissenschaften« nachzuweisen.
»Der gelehrte Winckelmann ist der erste, der den wahren Beobachtungsgeist in dieß Studium brachte; der erste, der es sich einfallen ließ, das Alterthum zu zergliedern, die Zeiten, Völker, Schulen, Manieren und die Nuancen derselben zu analysieren ... Da er endlich von der Analyse zur Synthese zurückkam, glückte es ihm, aus einem Haufen von Trümmern einen Körper zu schaffen; er vereinigte in der That disjecti membra poetae. Winckelmann hat ohne Zweifel viel gethan; wenn er aber der Wissenschaft Dienste leistete: so geschah es mehr noch durch seine Methode, als durch seine Schriften. ...
Stellen Sie sich aber vor, ob Winkelmann das, was er that, ohne die Menge der Materialien hätte thun können, die Rom ihm darbot; denken Sie sich diese nach Paris, oder entfernt, denken Sie sich, daß unser Beobachter, statt die Gallerien Italiens und Roms zu durchwandern, die Gallerien Europens hätte besuchen müssen; würde er dann wohl sein Werk entworfen, oder auch nur die Idee dazu gefaßt haben?«
(A. C. Quatremère de Quincy, Ueber den nachtheiligen Einfluß der Versetzung der Monumente aus Italien auf Künste und Wissenschaften, 1796)
Johann Joachim Winckelmann
Der Pariser Nachlass, Bibliothèque Nationale de France, Paris, Département des manuscrits, sign. Allemand, Bd. 56–76 (gezeigt: Exzerpte aus: Claude Perrault, Les dix livres d’architecture de Vitruve, Paris 1684, Bd. 62, Bl. 70 r°) | © Bibliothèque Nationale de France, Paris | Katalog 2017 [Nr. 112]
An der Geschichte von Winckelmanns Nachlass lässt sich die zentrale (kultur)politiche Bedeutung seines Werkes und seiner Figur in Europa ablesen. Als Winckelmanns Manuskripte im Frühjahr 1798 unter der Leitung General Louis Alexandre Berthiers (1753–1815) von den französischen Besatzungstruppen in der Bibliothek der Familie Albani in Rom entdeckt wurden, brachte man sie mit vielen anderen wertvollen Kunstwerken und Büchern nach Paris, wo sie dem Bestand der Bibliothèque Nationale einverleibt wurden. Da die Albani-Erben es nach 1815 versäumten, die Manuskripte zurückzufordern, bemühten sich Preußen und Bayern um den Nachlass Winckelmanns. Ihre Rückforderungsanträge wurden jedoch ebenso wie jene des nationalsozialistischen Deutschen Reiches abgelehnt.
»Möge Paris das moderne Athen werden, möge die Hauptstadt des Sittenverfalls, da sie nun von einer Menschenrasse bewohnt ist, die durch die Freiheit zu neuem Leben erweckt wurde, unter Ihrer weisen Führung zur Hauptstadt der Künste werden.«
(Armand Guy Kersaint, Discours sur les monuments publics, prononcé au Conseil du département de Paris le 15 décembre 1791, Paris 1792, Übs. É.D.)»Zeichnen Sie auf einer antiken Schriftrolle die herrlichen Blätter nach, auf denen Winckelmann in einer Feuersprache, in der sich der Glanz seiner Vorbilder spiegelt, als erster die Geheimnisse der Schönheit des Laokoon, des Apoll und des Torso aufdeckt.«
(Pierre Chaussard, Fêtes des Arts, Paris, 15 floréal an VI [= 4. Mai 1798], Übs. É.D. )