Die Schönheit der »Unbezeichnung« Winckelmanns androgyne Ästhetik
Für das hohe Ideal der Schönheit prägte Winckelmann den Begriff der »Unbezeichnung«. Gemeint ist die Schönheit einer Darstellung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie weder die Gestalt einer individuellen Person, noch eine »Empfindung der Leidenschaft« ausdrückt. Dieses Winckelmann’sche Ideal einer durch keinerlei individualisierende Merkmale definierten Schönheit gilt nicht zuletzt auch und vor allem für das Geschlecht. Vorbild sind hier die sexuell ambivalenten Darstellungen der beiden jugendlichen Gottheiten Apoll und Bacchus, denen er eine »vermischte und zweydeutige Natur« attestiert. Gerade in dieser Zweideutigkeit liegt für Winckelmann das Potential zur Vollkommenheit, denn sie trägt die summierte Schönheit beider Geschlechter in sich.
Das Ideal des androgynen jugendlichen Körpers sollte sich in der Folge als außerordentlich wirkmächtig erweisen. Nicht nur der europäische (Neo-)Klassizismus zeigt sich davon beeindruckt, auch Literatur und bildende Kunst um 1900 stehen noch in dieser Tradition. Mit dem Aufkommen der Fotografie erhält die Inszenierung antiker Androgynität neuen Aufschwung. Dass die Vorstellung einer Schönheit der »Unbezeichnung« auch eine gesellschaftlich-politische Bedeutung haben kann, zeigt wiederum Bettina Rheims in ihrer 2011 entstandenen Serie Gender Studies.