Ausdruck Dass Winckelmann seine Hauptthese zur Affekt- und Ausdrucksdämpfung ausgerechnet an einer Skulpturengruppe entwickelt, die diesem Ideal am wenigsten entspricht, gehört zu den Paradoxa seiner Ästhetik. Die von ihm hochgelobte Laokoon-Gruppe zeigt den trojanischen Priester Laokoon im Todeskampf mit zwei Schlangen, von denen die eine gerade im Begriff steht, ihn in die Seite zu beißen. Winckelmann behauptet, dass Laokoon nicht schreie, sondern lediglich seufze und sein Schicksal in »edler Einfalt und stiller Größe« trage. Tatsächlich lässt sich die hochbewegte Darstellung Laokoons jedoch nur schwerlich mit der berühmten Formel Winckelmanns in Übereinstimmung bringen. Die auch von Lessing diskutierte Frage hat die Künstler bis weit in das 20. Jahrhundert beschäftigt.
Hagesandros/Polydoros/Athanadoros
Laokoon-Gruppe
um 30 v. Chr., Marmor, H. 184 cm (mit gebeugtem Arm), Musei Vaticani, Rom, Inv. 1059 | Gipsabguss: Universität Leipzig, Institut für Klassische Archäologie und Antikenmuseum, Inv. G 603 | © Antikenmuseum der Universität Leipzig, Foto: PUNCTUM/Peter Franke | Katalog 2017 [Nr. 48]
»Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele.
Diese Seele schildert sich in dem Gesicht des Laocoons, und nicht in dem Gesicht allein, bey dem heftigsten Leiden. Der Schmertz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Cörpers entdecket, und den man gantz allein, ohne das Gesicht und andere Theile zu betrachten, an den schmertzlich eingezogenen Unter-Leib beynahe selbst zu empfinden glaubet; dieser Schmertz, sage ich, äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der gantzen Stellung.
Er erhebet kein schreckliches Geschrey, wie Virgil von seinem Laocoon singet: Die Oeffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet. Der Schmertz des Cörpers und die Grösse der Seele sind durch den gantzen Bau der Figur mit gleicher Stärcke ausgetheilet, und gleichsam abgewogen. Laocoon leidet, aber er leidet wie des Sophocles Philoctetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können.«
(J. J. Winckelmann, Gedancken über die Nachahmung, 1755)
Johann Heinrich Füssli (1741–1825)
Dame vor Laokoon II
Version auf Blattrückseite | um 1801–1805, Bleistift, Feder, Pinsel und Sepia, 320 × 404 mm, Kunsthaus Zürich, Graphische Sammlung, Inv. 1913/7 | © 2017 Kunsthaus Zürich | Katalog 2017 [Nr. 50]
Füsslis Zeichnung zeigt die von Winckelmann als Inbegriff edler Einfalt und stiller Größe gefeierte Figur des Laokoon, die von einer modern gekleideten Dame mit geballten Fäusten betrachtet wird. Auffällig ist, dass der Kopf der antiken Figur nicht ausgeführt, dafür aber das männliche Geschlecht zwischen seinen gespreizten Beinen um so prominenter inszeniert ist. Im Gegensatz zu Winckelmanns auf Affektdämpfung abzielender Beschreibung schwingt in der von Füssli skizzierten Laokoon-Szene eine gewisse Aggressivität und Obzönität mit.
»he [Winckelmann] reasoned himself into frigid reveries and Platonic dreams on beauty. ... To him Germany owes the shackles of her artists, and the narrow limits of their aim; from him they have learnt to substitute the means for the end, and by a hopeless chace [sic] after what they call beauty, to lose what alone can make beauty interesting, expression and mind.«
(J. H. Füssli, Lectures on Painting, Introduction, 1820)
Franz Xaver Messerschmidt (1736–1783)
Der Gähner
aus der Serie der sogenannten Charakterköpfe | um 1775, Bronze, H. 45 cm (mit Sockel), Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Inv. P 2009-27 | © Museum Kunstpalast – LVR-ZMB – Stefan Arendt – ARTOTHEK | Katalog 2017 [Nr. 51]
Die auf 64 Positionen angelegte Serie expressiver Charakterköpfe des österreichischen Bildhauers F. X. Messerschmidt lässt sich nur schwer mit dem klassizistischen Ideal eines gemäßigten Ausdrucks vereinbaren. Dies gilt insbesondere für die Büste des erst nach dem Tod des Künstlers so bezeichneten Gähners, der sich ebenso gut als Schreiender interpretieren lässt. Ob Gähner oder Schreiender: Mit dem weit geöffneten Mund verstößt die Büste demonstrativ gegen das von Lessing im Anschluss an Winckelmanns Laokoon-Interpretation entwickelte Verbot der bildkünstlerischen Darstellung vorübergehender Affekte wie des Schreiens, Lachens oder Gähnens.
Christian Friedrich Tieck (1776–1851)
Kassandra
1827, Gips, H. 91 cm, Klassik Stiftung Weimar, Museen, Inv. GPl/01153 | © Klassik Stiftung Weimar, Museen, Foto: Angelika Kittel | Katalog 2017 [Nr. 52]
Tiecks Statue der Kassandra zeigt die trojanische Königstochter im Moment kurz vor der von ihr selbst vorausgesehenen Entführung und Vergewaltigung durch den Griechen Ajax. Ihrem gottgewollten Schicksal ausgeliefert wie ihr Landsmann, der Priester Laokoon, ist ihre halb flehende, halb abwehrende Gestik und Körperhaltung deutlich derjenigen der berühmten Figur im Vatikan nachempfunden. Angesichts der größten Bedrängnis bewahrt auch sie, so suggerieren »Stellung« und »Ausdruck«, eine »grosse und gesetzte Seele«, die Winckelmann als den Vorzug griechischer Kunstwerke bezeichnet hatte.
Adolf von Hildebrand (1847–1921)
Rastender Merkur
1885/86, Bronze, H. 163 cm, Klassik Stiftung Weimar, Museen, Inv. G 980 | © Klassik Stiftung Weimar, Museen, Foto: Alexander Burzik | Katalog 2017 [Nr. 54]
Der gemäßigte Ausdruck, der auf individuelle Gefühlsregungen verzichtet und die Formen weitgehend unbewegt lässt, bleibt in der bildenden Kunst weit über den Klassizismus um 1800 hinaus aktuell. In der Malerei wird dieser Strang durch eine Figur wie Hans von Marées (1837–1887) repräsentiert. In ganz ähnlicher Weise wie sein Freund Marées nimmt auch der Bildhauer Adolf von Hildebrand ruhende Figuren, die auf eine Allgemeingültigkeit des Ausdrucks zielen, zum Ausgangspunkt seines skulpturalen Schaffens. Zum Ausdruck der Ruhe seiner Figuren trägt nicht zuletzt deren farblich monochrome Gestaltung bei, die sich von der zeitgenössischen Tendenz zur Polychromie bewusst fern hält.